Schon seit einigen Wochen geisterte ein Erlebnis aus meiner Schulzeit in meinem Kopf herum. Etwas, was ich als Schüler erlebt hatte und mich im Nachhinein stets gefragt habe, wie es dem Lehrer in dieser Situation vielleicht ging. Was er gedacht und gefühlt hat. Als Schüler hinterfragt man das in vielen Fällen gar nicht. Und wenn, dann erst nach einer ganzen Weile. Entstanden ist am Ende eine Kurzgeschichte, die sich dem Thema annimmt. „Die Kugel, bitte!“ könnt ihr jetzt also auch lesen.
Die Kugel, bitte!
Er war schon seit langer Zeit Lehrer, mehrere Jahrzehnte begleitete er bereits Heranwachsende auf ihrem Weg und sorgte dafür, dass ihre schulische Ausbildung möglichst hochwertig und professionell ablaufen konnte. Doch was ihm dieser zehnte Jahrgang da vorgelegt hatte, brachte Hanselmann nahe an den Rand der Verzweiflung. Nicht nur an der Rechtschreibung haperte es bei den Schülerinnen und Schülern, auch inhaltlich konnte ihn die Leistung ganz und gar nicht überzeugen. Im Gegenteil. Es grenzte fast schon an eine Frechheit, was ihm diese Klasse hier vorgesetzt hatte. So ganz grob dürfte der Notenspiegel im deutlich unteren Bereich einzuordnen sein, überschlug er, während er an seinem Schreibtisch saß, sich ein Stück Mandarine in den Mund steckte und nach dem zwischenzeitlich zweiten Rotstift griff.
Das Kännchen Tee war inzwischen geleert, das Teelicht im Stövchen ausgebrannt. Es dämmerte. Und noch war Hanselmann weit davon entfernt, die Deutschklausur fertig korrigiert zu haben. Das kleine Lämpchen auf seinem Schreibtisch erleuchtete die Blätter Papier direkt vor ihm, während der Raum ansonsten immer mehr in Dunkelheit gehüllt wurde. Und so langsam erlosch auch sein Licht der Motivation. Die ganzen Fehler, mangelhaften Ausdrücke und löchrigen Inhalte wurmten ihn. Wut spürte er keine, doch er kam einem Zustand der Resignation näher. Kurz überlegte er, den Schwung Papier zu greifen und mit einem Wisch in den Papierkorb zu befördern. Doch keine Chance, seine Berufsehre hinderte ihn daran. Er musste da durch. So, wie am kommenden Schultag seine Schüler mit der Bewertung werden leben müssen.
Er legte die nächste Klausur beiseite, die inzwischen mehr rot markiert war, als ihm zuvor lieb gewesen wäre. Dann griff er den nächsten Papierstapel, blickte kurz auf die erste Seite. Hanselmann verdrehte die Augen. Seine rechte Hand formte mit dem Zeige- und Ringfinger eine Pistole und wanderte an seine Schläfe. „Bäm!“, rief er, griff dann aber zum Rotstift und begann auch hier mit seinen Korrekturen und Anmerkungen. Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete sich, fragend schaute ihn seine Frau an. Das „Bäm“ hatte sie neugierig gemacht. Als sie den Rotstift in Hanselmanns Hand sah, konnte sie sich den Hintergrund dazu allerdings bereits erschließen. Auf dem Computer daneben tippte der Lehrer gerade die relevanten Punkte für eine Zusammenfassung, die er am Ende an alle Schüler verteilen wollte.
Notiz um Notiz sammelte sich darin, während der Rotstift wieder und wieder über die Blätter fegte. Auf mancher Seite war der Lehrer kurz davor, einfach die gesamten Inhalte rot durchzustreichen und so sein Unverständnis über diese unzureichenden Leistungen zum Ausdruck bringen zu können. Doch auch das Widersprach seiner Berufsehre, so gern er diese just in diesem Moment auch über Bord geworfen hätte. Erneut an diesem Abend. So zogen sich die weiteren Stunden. Als er am Ende die vierundzwanzigste und damit letzte Klausur korrigiert hatte, wusste er nicht mehr so genau, warum er sich damals für den Lehrberuf entschieden hatte. Fast schon betäubt fiel Hanselmann ins Bett und kurz darauf in einen unruhigen, leichten Schlaf.
…
Dementsprechend gerädert war der Lehrer auch, als er am nächsten Morgen pünktlich in der Schule erschien, die korrigierten Klausuren mit seinen Anmerkungen in einer schwarzen Aktentasche unter dem Arm tragend. Der Kaffee im Lehrerzimmer schmeckte an diesem Morgen auch nicht wirklich, doch zumindest hatte Hanselmann das Gefühl, das Koffeingetränk würde ihn zumindest etwas wacher machen. Von Konzentration war an diesem Tag allerdings nicht viel zu spüren, bei der ansonsten so durchorganisierten Lehrkraft. Es waren nur noch wenige Minuten, bis er wieder auf seinen zehnten Jahrgang treffen würde und seiner Schülerschaft die Klausuren zurückgeben muss.
Es klingelte. Auf den Gängen des Gymnasiums herrschte reges Treiben. Einzelne Schüler, kleine Grüppchen und Duos machten sich auf den Weg zu ihren Klassenräumen. Einzelne Lehrer liefen schnellen Schrittes durch die Flure, wedelten dabei mit ihren Schlüsselbunden oder hielten noch ein kurzes Schwätzchen mit Kollegen. Hanselmann stellte den Kaffeebecher zur Seite, erhob sich von seinem alten, mit grünem Stoff bezogenen Stuhl und griff nach seiner Aktentasche. Dann machte auch er sich auf den Weg zum Klassenraum seines zehnten Jahrgangs.
Dort warteten bereits die meisten seiner Schülerinnen und Schüler. Nur die „üblichen Verdächtigen“ trotteten noch gemächlich auf dem Flur herum und schienen ebenso unmotiviert zu sein wie der Lehrer. Vielleicht ahnten sie auch schon, was gleich auf sie zukommen würde? Die Tür öffnete sich und die Schülerinnen und Schüler schoben sich in das Klassenzimmer. Kurze Zeit später saßen alle an ihren Plätzen, vereinzelt wurde getuschelt, weshalb der Lehrer heute ein wenig zerzaust aussehen könne. „Kriegen wir die Klausur zurück?“, fragte jemand aus der letzten Reihe. Es klang gelangweilt. Kommentarlos nickte der Lehrer, öffnete seine Tasche und begann damit, die Klausuren auszuteilen. Erste Schüleraugen weiteten sich aufgrund der vielen roten Markierungen in den Klassenarbeiten. Die Lehrkraft blieb weiterhin stumm, ging letztlich zum Lehrerpult zurück und setzte sich. Hanselmann faltete die Hände und schaute seine Klasse an. Unruhe machte sich breit. Denn trotz aller roten Bemerkungen hatte der Lehrer auf eines verzichtet: auf Zensuren am Ende der Klausuren. Diese waren auch gar nicht nötig, denn die Klausur würde nicht gewertet werden. Stattdessen würden die Schüler sie erneut schreiben müssen.
Der Ärger des Studienrats, den er am vorherigen Abend noch verspürt hatte, war verflogen. Eher machte sich nun ein gewisses Machtgefühl in ihm breit. Seine Schülerschaft war verunsichert, er war am Zug. Zum zweiten Mal an diesem noch jungen Tag. Langsam stand er auf, griff erneut nach seiner Tasche und holte einen Stapel Papiere heraus. 24 Seiten, 24 Ausführungen desselben Inhalts. 24 Zusammenfassungen der 24 Klausuren seiner Schülerinnen und Schüler. Hanselmann hielt die Blätter in seinen Händen, schaute noch einmal auf die vorderste Seite und blickte schließlich mit einem gewissen Stolz auf den Dateinamen, den er ganz bewusst mit auf die Seiten gedruckt hatte: diekugelbitte.docx. Dann begann er, die Seiten auszuteilen.
Hauke Eilers-Buchta, 2024